Wolfgang Dudda zu „25 Jahre friedliche Revolution“

Der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, sagte am 9. November 1994 vor der SPD-Bundestagsfraktion, dass es des 9. Novembers 1989 nicht bedurft hätte, wenn es nicht den 9.11.1938 gegeben hätte. Seine mahnende Feststellung fasst in nur einem schlichten Satz zusammen, wozu die Deutschen im vergangenen Jahrhundert fähig waren. Von daher hätte es sich wohl gewiss auch gehört, dass wir hier vor einem Jahr des 75. Jahrestages der als Reichskristallnacht in die Geschichte eingegangenen Pogrome des 9.11.1938 gedacht hätten. Das haben wir nicht getan.

Wer nur des einen Ereignisses gedenkt und dabei die Kausalität mit dem anderen außer Acht lässt, begeht historische Rosinenpickerei und wird der Geschichte nicht gerecht.

Genau so verhält es sich damit, dass vor 25 Jahren der Mut anderer Menschen im Osten Europas den Weg bereitete, den dann die Menschen in der DDR im Herbst 1989 so großartig beschritten. Die Menschenkette, an der sich über eine Million Balten beteiligten, haben wir in unserem Änderungsantrag ja schon als Beispiel angeführt. Im Grunde genommen müssen wir jedoch noch viel früher anfangen und ins Jahr 1980 zurückgehen, als sich die Polen in der Gewerkschaft Solidarnosc organisierten. Der sie dabei unterstützende Priester Jerzy Popiełuszko wurde vor 30 Jahren vom polnischen Geheimdienst im Auftrag des KGB ermordet. Seine Gemeinde war das Sammelbecken für die oppositionellen Bürgerrechtler.

Wir sehen also eine Spur, die von Popiełuszkos St.-Stanisław-Kostka-Gemeinde in Warschau zur Gethsemanekirche in Berlin-Pankow führt. Genau so gehört zum vollständigen Bild das Tian’anmen-Massaker in Peking nur wenige Monate zuvor. Als Gegner der totalitären, undemokratischen Strukturen musste man damals also auch damit rechnen, sein Leben zu verlieren. Und die so genannte „chinesische Lösung“ war, wie wir heute wissen, ja tatsächlich eine im ZK der SED diskutierte Option.

Zu den Grundlagen für die von den mutigen Menschen in der DDR im Herbst 1989 so großartig geschaffenen Tatsachen gehörten allerdings zweifellos auch die Ausbürgerung Wolf Biermanns im Herbst 1976 und die danach folgenden Repressalien und Ausbürgerungen der sich mit ihm solidarisierenden Künstler, zu denen u.a. auch Reiner Kunze und Manfred Krug gehörten. Der Deutsche Bundestag hat dem in der vorigen Woche durch die Einladung von Wolf Biermann in den Bundestag ja Rechnung getragen.

Diese Zusammenhänge müssen wir im Gedächtnis behalten und so die Verdienste der Ermordeten, der Zusammengeschlagenen und Eingesperrten dieser Zeit anständig würdigen!

Ganz offensichtlich reicht es dafür jedoch nicht aus, dies nur den Schülerinnen und Schülern dieses Landes intensiver zu vermitteln. Auch den Erwachsenen muss das mehr als bisher deutlich gemacht werden. Der Fall der Mauer ist das sichtbarste und wesentlichste Resultat der Überwindung der europäischen Teilung. Er ist eben allerdings auch das Resultat des Mutes anderer Menschen in Osteuropa.

Ja, wir dürfen uns über das, was damals geschehen freuen. Beim Feiern dessen sollten wir jedoch bescheidener sein, so lange die „Teilung in den Köpfen“ und die „Teilung in den Portemonnaies“ nicht überwunden ist. „Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“ Mit diesem Satz endete die alte Präambel unseres Grundgesetzes.

Vollendet ist die Einheit Deutschlands politisch und geographisch. In den Köpfen ist das Land immer noch geteilt. Zu unterschiedlich wird dafür noch die DDR und das Leben in ihr von den Menschen bewertet, wie zahlreiche Umfragen belegen. Die DDR war eben nicht nur ein Unrechtsstaat. Sie war auch Heimat mit allem, was zu diesem Begriff gehört. Es steht uns gut an, das durchaus mit mehr Respekt als bisher zu bedienen. Mit anderen Worten: Wer hier sagt, dass alles in der DDR schlecht war, darf sich nicht wundern, wenn ihm genau das Gegenteil aus dem Osten zugerufen wird.

Welche Folgen es hat, wenn man genau das nicht tut, ist beispielhaft in der Uckermark zu sehen: Die Uckermark weist die höchste Arbeitslosenquote Deutschlands auf. Hier, wo unsere Bundeskanzlerin aufgewachsen ist, gibt es gleichzeitig eine der aktivsten rechtsradikalen Szenen Deutschlands. Beides haben die Menschen im Herbst 1989 gewiss nicht gewollt. Um beides muss sich gleich intensiv gekümmert werden.

Letztlich wird die Teilung in den Köpfen und Portemonnaies frühestens beseitigt sein können, wenn 2019 – also 30 Jahre nach der friedlichen Revolution – das Rentenniveau im Osten unseres Landes so hoch wie das im Westen ist.

Zum Schluss stelle ich dann allerdings auch die Frage, ob die Menschen im Herbst die Bespitzelung und Ausforschung durch die Stasi, den KGB und IMs überwinden wollten, um zum Beginn des 21. Jahrhunderts eine wesentlich besser organisierte und allumfassende Bespitzelung und Ausforschung durch ausländische Geheimdienste duldend hinzunehmen?

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