Warum wir PIRATEN gegen die 5%-Sperrklausel kämpfen [2. Ergänzung]

Das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht ist heute der Argumentation der PIRATEN nicht gefolgt, wonach die 5%-Sperrklausel verfassungswidrig sei. Damit bleibt es weiterhin bei dem Verfall zehntausender Stimmen, die an dieser Klausel scheitern. Andere europäische Staaten kommen schon seit Jahrzehnten mit erheblich geringeren oder ganz ohne Sperrklausel zurecht und bilden dennoch stabile Regierungen. Deswegen werden wir PIRATEN weiterhin gegen die Sperrklausel kämpfen.

Im November 2012 haben wir einen Gesetzentwurf zur Abschaffung der 5%-Sperrklausel eingereicht, dessen Begründung wie folgt lautet:

Die im Landeswahlgesetz enthaltene 5%-Sperrklausel verhindert bislang, dass kleinere Parteien im Landtag vertreten sind. Das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Jahren Sperrklauseln für die Kommunalwahl wie auch für die Wahl zum Europäischen Parlament für verfassungswidrig erklärt. Durch Abschaffung der Sperrklausel auch bei der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag wird die Offenheit für neue Ideen, politischer Wettbewerb und politische Vielfalt gestärkt. Wählerstimmen für kleine Parteien verfallen nicht mehr wertlos, und das Risiko eines Verfalls schreckt nicht mehr von der Wahl kleiner Parteien ab. Schließlich wird die vielkritisierte Privilegierung des SSW beseitigt, ohne die Vertretung der dänischen Minderheit im Landtag zu erschweren.

Für die 5%-Sperrklausel bei Landtagswahlen wird bisher vor allem angeführt, dass der Einzug kleiner Parteien in den Landtag die Bildung von Regierungskoalitionen erschwerte. Dies kann den Ausschluss kleiner Wettbewerber und die Entwertung der Stimmen ihrer Wähler jedoch nicht rechtfertigen, denn die Bildung von Regierungskoalitionen bleibt auch ohne 5%-Sperrklausel möglich. Für den SSW gilt die Sperrklausel ohnehin nicht. Im Übrigen beweisen europäische Staaten ohne Sperrklausel (z.B. Finnland, Niederlande, Portugal), dass die Regierungsfähigkeit gewährleistet bleibt. Der Europarat hat sich in seiner Resolution 1547 (2007) gegen eine 3% übersteigende Sperrklausel in etablierten Demokratien ausgesprochen.

Die 5%-Sperrklausel bei Landtagswahlen kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass sie den Einzug nationalistischer Parteien in den Landtag erschwere. Der europäische Vergleich zeigt, dass Sperrklauseln den Einzug nationalistischer oder rechtspopulistischer Parteien ins Parlament letztlich nicht verhindern können. Von 16 europäischen Staaten, in deren nationalen Parlamenten solche Parteien 2010 vertreten waren, verfügten 14 über eine Sperrklausel. Sperrklauseln machen rechte Parteien eher gefährlicher, weil sie es den demokratischen Parteien ermöglichen, ihren Kopf in den Sand zu stecken, anstatt sich offensiv mit dem zugrunde liegenden Problem auseinander zu setzen. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden, dass es der Wunsch nach Ausschluss bestimmter unerwünschter Parteien nicht rechtfertigt, auch alle anderen kleinen Parteien auszuschließen (BVerfGE 111, 382 (420)). Für das Vorgehen gegen verfassungsfeindliche Parteien steht das Parteiverbotsverfahren zur Verfügung.

Kleine und neue Parteien spielen eine wichtige Rolle in unserem politischen System, weil sie Wettbewerbsdruck auf die etablierten Parteien entfalten und diese zwingen, sich mit neuen Themen auseinanderzusetzen. Bereits die Chance neuer und kleiner Wettbewerber, für überzeugende Lösungskonzepte bei Wahlen belohnt zu werden, zwingt die etablierten Parteien zu einer verstärkten Rückkoppelung mit dem Bürger. Dies stärkt die Demokratie in unserem Land und erhöht damit die Motivation der Bürger an der Wahl teilzunehmen. Es sollte vornehmste Aufgabe des Landtages sein, für eine stärkere Bürger- und Wahlbeteiligung einzutreten.

Im Dezember haben wir gegenüber dem Landesverfassungsgericht eine Stellungnahme abgegeben, wonach die 5%-Sperrklausel nicht zu rechtfertigen sei.

Auch in der mündlichen Verhandlung im Juni habe ich gegen die Sperrklausel argumentiert. Hier meine Redestichpunkte:

Zur Zulässigkeit der in § 3 Abs.1 S. 1 LWahlG verankerten 5%-Klausel

Maßstab: zwingend erforderlich, um eine mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Landtags abzuwenden?

  • BVerfG: „Andererseits reicht die bloße ‚Erleichterung‘ oder ‚Vereinfachung‘ der Beschlussfassung nicht aus“
  • BVerfG: „stabile Mehrheit“ sei „zwingend erforderlich“, damit die Regierung dringliche Gesetze verabschieden lassen kann, ohne „ständig Gefahr zu laufen, ihre Gefolgschaft zu verlieren“. Das Parlament ist nicht Gefolgschaft der Regierung!
  • Haushalt auf EU-Ebene wird ohne Sperrklausel veranschiedet.
  • NRW wirtschaftete ein Jahr lang ohne wirksamen Haushaltsplan.
  • Landräte werden problemlos von den ohne Sperrklausel gebildeten Kreistagen gewählt, dann kann auch der Landtag ohne Sperrklausel den Ministerpräsidenten wählen.
  • Seven Council of Europe member states do not use thresholds. Moreover, in several systems the thresholds are applied only to a restricted number of seats (in Norway and Iceland, for example).
  • BVerfG: bei wesentlicher Änderung der Verhältnisse ist Sperrklausel neu zu beurteilen. Diese Voraussetzungen liegen vor. Die ursprüngliche Rechtsprechung des BVerfG ist überholt. Eine wesentliche Veränderung der Verhältnisse liegt in der zwischenzeitlichen Stabilisierung der Demokratie und in der grundsätzlichen Koalitionsbereitschaft aller Parteien in Schleswig-Holstein.
  • SH Landtag nicht mit Bundestag vergleichbar: inhärente Sperrklausel
  • Konkret in SH: 2009/2012
  • alle Parteien koalitionswillig, nicht „obstruktiv“
  • 50.000 verfallene Stimmen
  • Überzeugende Lösung für dänische Minderheit
  • eigene Meinung bilden!
  • mildere Mittel: geringere Hürde, Ersatzstimme

Landtagswahl SH 2012 ohne Sperrklausel:

Name Voten Quotient Sitze Überhang
„CDU“ 408637 21.51 22 0
„SPD“ 404048 21.3 21 0
„FDP“ 108953 5.7 6 0
„Grüne“ 174953 9.2 9 0
„Linke“ 29990 1.6 2 0
„SSW“ 61025 3.2 3 0
„Piraten“ 108902 5.7 6 0
„NPD“ 9832 0.52 1 0
„Familie“ 12758 0.7 1 0
„FW“ 7823 0.4 0 0
„MUD“ 1621 0.1 0 0
„RRP“ 0 0.0 0 0
Summe (Divisor) 1328542 (19000) 71 0

Landtagswahl SH 2009 ohne Sperrklausel nach aktuellem Wahlrecht:

Name Voten Sitze Überhang
„CDU“ 505612 29 0
„SPD“ 407643 23 0
„FDP“ 239338 13 0
„Grüne“ 199367 11 0
„SSW“ 69701 4 0
„LINKE“ 95764 5 0
„Piraten“ 28837 2 0
„NPD“ 14991 1 0
„Familie“ 12310 1 0
„FW“ 16362 1 0
„Rentner“ 10165 1 0
„RRP“ 2467 0 0
Summe 1602557 91 0

Behauptete Wahlwerbung der FDP Bundestagsfraktion

a) Wahlfehler?

  • Wahlfehler nicht nur, wenn Wahlorgan beeinflusst, sondern für alle „staatlichen Stellen“, die „im Vorfeld einer Wahl in mehr als nur unerheblichem Maße parteiergreifend auf die Bildung des Wählerwillens eingewirkt haben“ (BVerfGE 103, 111)
  • VGH Bad.-Württ.: örtlicher und zeitlicher Zusammenhang zur Wahl + Umstände, die für die Willensbildung des durchschnittlichen Wählers vernünftigerweise erheblich sein können
  • LVerfG RLP: „Dies verlangt sowohl eine Zurückhaltung in der Art der Präsen­tation der Informationen als auch eine Mäßigung in der Zeit von Wahl­kämpfen.“
  • VG Schleswig: Postwurfsendungen unzulässig
  • Brüderle-Brief: „Für die Liberalen ist deshalb klar: Mit der Schuldenpolitik in Deutschland muss endgültig Schluss sein.“
  • Infratest März 2013: Haushaltslage/Verschuldung das drittwichtigste Problem im Bundesland (für 12%), nach Bildung und fast gleichauf mit Arbeitslosigkeit/Arbeitsmarkt (13%)

b) Kausal für Wahlausgang?

  • „unter der Erheblichkeitsschwelle“: Ab wann wird es erheblich? Es reicht laut BVerfG, wenn „in mehr als nur unerheblichem Maße parteiergreifend auf die Bildung des Wählerwillens eingewirkt“
  • BVerwGE 104, 323: eine Zeitungsanzeige genügt. Hier: FDP nimmt Zielgruppentargeting vor

Auch wenn Schleswig-Holstein einige Besonderheiten aufweist: Dass eine 5%-Sperrklausel heutzutage unverhältnismäßig und exzessiv ist, gilt aus meiner Sicht für alle Landtage und auch für den Bundestag. Jede Stimme muss zählen! Wir brauchen mehr Demokratie und eine größere Offenheit für neue Stimmen in der Politik. Wenn wir für unseren Gesetzentwurf zur Abschaffung der Sperrklausel eine Mehrheit finden können, würde Schleswig-Holstein zu einem Leuchtturm für mehr Demokratie und politische Vielfalt in Deutschland. Wir werden die entsprechenden Gespräche fortsetzen.

Ergänzung:

Wörtlich schreibt das Landesverfassungsgericht zur 5%-Sperrklausel:

Ob andere Milderungmöglichkeiten in Betracht kommen, unterliegt dem Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers. Zur Zeit ist ein 5%-Quorum auch angemessen. Der schleswig-holsteinische Gesetzgeber kommt seiner Pflicht zur Beobachtung der rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten aktuell nach (vgl. Landtags-Drucksache 18/385).

Daraus folgt, dass die 5%-Sperrklausel zwar zurzeit noch in Ordnung sei, dass der Landtag aber eine Pflicht zur Beobachtung der Lage hat. Mit der Behandlung unseres Gesetzentwurfs zur Abschaffung der Klausel komme er dieser Pflicht nach. Auf den Ausgang der Prüfung und Gespräche darüber bin ich gespannt.

Weitere Ergänzung:

Die Urteile liegen nun im Volltext vor (Az. LVerfG 7/12 und LVerfG 9/12). Ein Auszug aus der Argumentation zur 5%-Sperrklausel:

c) § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahIG ist auch verhältnismäßig.

(1) Die 5%-Klausel ist geeignet, die mit ihr verfolgten legitimen Zwecke zu fördern, indem sie den vermehrten Einzug kleinerer und nicht auf stärkere Zustimmung angelegter Parteien in den Landtag verhindert.

(2) Die bisherige Einschätzung des Landtages, die 5%-Klausel sei auch in Zukunft erforderlich, um einer zu erwartenden Funktionsstörung des Landtages entgegenzuwirken, ist derzeit nicht zu beanstanden. Einerseits ist es neuen Parteien — etwa der Partei DIE LINKE in der 17. Wahlperiode und den PIRATEN in der 18. Wahlperiode – trotz der 5%-Klausel gelungen, in den Landtag einzuziehen. Andererseits hat die Hürde verhindert, dass daneben weitere kleinere Parteien mit einem oder zwei Sitzen in den Landtag eingezogen wären und zu einer Zersplitterung beigetragen hätten.

Die Einführung einer zweiten Listenstimme im Sinne einer Ersatz- bzw. Eventualstimme, die nur dann zu berücksichtigen wäre, wenn die mit der Hauptstimme gewählte Partei unter der 5%-Klausel bliebe (vgl. Linck, DÖV 1984, 884 ff.; Wenner, a.a.O., S. 412 ff.), ist kein gleich geeignetes milderes Mittel. Denn dieses Modell bedeutete eine Änderung des Konzepts des geltenden Wahlsystems der personalisierten Verhältniswahl durch Verstärkung der Erfolgschancen der großen Parteien.

Es unterliegt vielmehr dem Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers, ob zur Zweckerreichung eine 5%-Klausel, eine niedrigere Sperrklausel oder aber andere Milderungsmaßnahmen in Betracht kommen (so auch Linck, a.a.O., S. 884 und von Arnim, DÖV 2012, 224 <225>, die die Verfassungsmäßigkeit der 5%-Klausel nicht bezweifeln und Milderungsmaßnahmen dem politischen Ermessen zuschreiben).

(3) Die Sperrklausel ist auch angemessen. Das Bundesverfassungsgericht als Landesverfassungsgericht für Schleswig-Holstein hat eine Sperrklausel von 7,5% als unangemessen und eine Sperrklausel von 5% als angemessen angesehen (vgl. BVerfG, Urteil vom 5. April 1952 – 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 152 ff.) und diese Auffassung auch für den Deutschen Bundestag vertreten (vgl. BVerfG, Urteil vom 10.April 1997, a.a.O., Juris Rn. 54). Das erkennende Gericht hält an dieser Auffassung für den jetzigen Zeitpunkt fest. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits die Notwendigkeit aufgezeigt, die Sperrklausel in der jeweiligen politischen Situation zu bewerten, als es ausgeführt hat, es müssten „ganz besondere, zwingende Gründe gegeben sein, um eine Erhöhung des Quorums über den gemeindeutschen Satz von 5% zu rechtfertigen“ (vgl. BVerfG, Urteil vom 5. April 1952, a.a.O., Juris Rn. 153).

Der Gesetzgeber ist daher verpflichtet, die politische Wirklichkeit zu beobachten und unter Berücksichtigung der rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten die Bedingungen und Gründe für die Aufrechterhaltung der bestehenden und nicht explizit in der Verfassung verankerten 5%-Hürde zu überprüfen; er hat eine die Gleichheit der Wahl berührende Norm des Wahlrechts gegebenenfalls zu ändern, wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Norm durch neue Entwicklungen in Frage gestellt wird, etwa durch eine Änderung der vorausgesetzten tatsächlichen oder normativen Grundlagen oder dadurch, dass sich die beim Erlass der Norm hinsichtlich ihrer Auswirkungen angestellte Prognose als írríg erwiesen hat (BVerfG, Urteile vom 9. November 2011 – 2 BvC 4/10 u.a. -, BVerfGE 129, 300 ff., Juris Rn. 90 und vom 25. Juli 2012 – 2 BvE 9/11 u.a. -, BVerfGE 131, 316 ff., Juris Rn. 64 m.w.N.).
Der Prüfpflicht kommt der Schleswig-Holsteinische Landtag auf Gesetzesinitiative der PIRATEN zur Abschaffung der 5%-Klausel (vgl. Landtags-Drucksache 18/385) derzeit nach, obwohl er noch im Rahmen der Novellierung des Kommunalwahlrechts im Jahre 2008 die 5%-Klausel bei Landtagswahlen bewusst unangetastet gelassen hatte (vgl. Landtags-Drucksache 16/1879, PIPr 16/79 vom 27. Februar 2008, S. 5736 ff.).

Da das Wahlrecht und der politische Prozess in einem Wechselverhältnis stehen, ist die Erforderlichkeit und Angemessenheit einer Sperrklausel einer empirischen Überprüfung allein mit den Mitteln der politischen Wissenschaften oder der Mathematik nicht zugänglich. Die Ergebnisse vergangener Wahlen ermöglichen keine gesicherte Aussage über den Ausgang zukünftiger Wahlen. Das geltende Wahlrecht wirkt auf die Wahlergebnisse und das Wahlverhalten zurück. Insoweit bleibt die Entscheidung über die Aufrechterhaltung einer Sperrklausel eine wertende Prognoseentscheidung.

Wichtig für die Frage der Zukunft der 5%-Sperrklausel könnte sein, dass das Landesverfassungsgericht eine Zersplitterung des Landtags offenbar nur bei Ein- oder Zwei-Sitz-Parteien annimmt. Würde man den Einzug ab drei Sitzen zulassen, käme man zu einer erheblich geringeren Hürde von etwa 3,6%.

Interessant ist auch, dass das Landesverfassungsgericht die Einführung einer Eventualstimme zwar nicht für zwingend geboten hält, ihre Eignung zur Abmilderung der Hürde aber nicht bestreitet. Insbesondere räumt das Landesverfassungsgericht ein, dass die Sperrklausel einen Einfluss auf das Wahlverhalten hat. Sie schreckt Menschen, die ihre Stimme nicht wertlos verfallen lassen möchten, von der Wahl neuer Parteien ab.

Wir werden diese Fragen im Landtag diskutieren.

Zur FDP hat das Gericht übrigens Lustiges ausgeführt:

Ein hinreichend konkreter Zusammenhang zwischen der Öffentlichkeitsarbeit der FDP-Bundestagsfraktion und der Entscheidung einer nennenswerten Zahl von Wählerinnen und Wählern lässt sich nicht herstellen. Sowohl Informationen, die über Flugblätter als auch solche, die über Kinospots gegeben werden, sind kurzlebiger Natur und nur von geringer Überzeugungskraft.

Aha, die FDP-Werbung ist also von „geringer Überzeugungskraft“ – ganz meine Meinung.

Weiterlesen: Verfassungsgericht bestätigt: FDP macht illegale Wahlwerbung auf Steuerzahlerkosten

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