Verkehrte Welt? Grüne ruft Piraten zur Ordnung [ergänzt]

„Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch.“ Der berühmte Ausspruch des jungen Joschka Fischer (damals 36 Jahre alt) gegenüber dem Bundestagsvizepräsidenten Richard Stücklen (CSU, damals 68 Jahre alt) haftet im Gedächtnis als sei er erst gestern erfolgt und liege nicht eine Generation zurück (27 Jahre, um genau zu sein). Die Grünen, die in ihrer Anfangszeit das Erscheinungsbild deutscher Parlamente mit Vollbärten und Strickpullovern revolutionierten, unterscheiden sich inzwischen äußerlich, dem Alter nach und in ihrem Verhalten kaum noch von anderen Abgeordneten.

Als der schleswig-holsteinische Landtag am Mittwoch die Regierungserklärung des Ministerpräsidenten debattierte, amtierte zuletzt die Grüne Marlies Fritzen (50) als Sitzungspräsidentin. Dass der SPD-Fraktionsvorsitzende Dr. Stegner (52) die Piraten in seiner Rede aufforderte, die Würde des Hauses zu achten, passte noch ins Bild. (Die Piraten stören die Etablierten mit ihrer Forderung, die Verkleinerung des Landtags und der Fraktionen um ein Viertel der Abgeordneten müsse auch eine entsprechende Absenkung der Fraktionsgelder nach sich ziehen.)

Als der Piratenabgeordnete Uli König (31) dann aber gegen Ende des langen, parteipolitisch geprägten Schlagabtauschs der Etablierten den Landtag als „Schaukampfbude“ bezeichnete, trug ihm dies einen Rüffel und eine längere Belehrung durch die grüne Vizepräsidentin ein. Dabei habe ich inzwischen erfahren, dass bekannte Politiker, die einander auf öffentlicher Bühne anfeinden, sich im vertrauten Kreis duzen und freundlich miteinander plaudern. Diese Unehrlichkeit ist, was der „Würde des Hauses“ und dem Ansehen der Politiker tatsächlich schadet.

Ein grüner Abgeordneter belehrte mich am Rande der Sitzung, dass es nicht üblich sei, Redebeiträge neben dem Präsidenten und den übrigen Abgeordneten auch an die Öffentlichkeit zu richten.

Gegen Ende der Sitzung habe ich schließlich das Wort ergriffen, um eine Verfassungsbeschwerde gegen das bayerische Tanzverbot in geschlossenen Räumen an Karfreitagen zu unterstützen, obwohl die Tagesordnung keine Aussprache dazu vorsah. Inmitten meiner Rede unterbrach mich die grüne Vizepräsidentin und ermahnte mich sinngemäß, dass ich nach der Geschäftsordnung nicht begründen dürfe, warum ich meinen Antrag gestellt habe, sondern nur, warum ich für ihn stimmen wolle (sic!).

Ich beendete meine Rede artig mit einem Satz, und auch Uli König entschuldigte sich nach der Sitzung für den Begriff „Schaukampfbude“. Die Piraten schimpfen nicht, sie programmieren. Wenn sie ein Betriebssystem umprogrammieren, bemerkt man das nicht gleich an der Oberfläche. Vielleicht ist eine solche Rebellion nachhaltiger als eine Protestwelle, die an den ersten Klippen der Macht sogleich wieder bricht.

Ergänzung vom 20.08.2012:

Der Wissenschaftliche Dienst kommt in einem Gutachten (pdf) zu dem Ergebnis, dass es zulässig gewesen sei, mir zu verweigern, meinen Änderungsantrag zu begründen.

11 Kommentare

11 Kommentare

  • 1
    Anonymous
    16. Juni 2012 um 22:28 Uhr

    Die anderen sind immer Schuld oder? Damit werdet ihr weit kommen…

    • 2
      Anonymous
      16. Juni 2012 um 23:41 Uhr

      Schuld woran?
      Wer sind Sie und wovon schreiben sie?

  • 3
    @RainPMV
    17. Juni 2012 um 13:22 Uhr

    Ich lese den Beitrag nichts von Schuld, sondern von verschiedenen Herangehensweisen, wie man politische Prozesse darstellt.
    Und es stimmt doch, das immer zuerst auf das Parteibuch und dann auf das Thema geschaut wird. Sonst stImmt man vielleicht den anderen noch zu, welch eine politische Kathastrophe 😉
    Und das sieht man leider auch schon in den Kommunalparlamenten auf Kreis und Gemeindeebene.
    Piraten sollen ihren weg weitergehen, auch wenn sie dafür noch so manches Lehrgeld bezahlen, aber ich denke sie werden das dann auch zugeben und daraus lernen, so habe ich sie bisher meistens erlebt.
    Also geht euren Weg und wer sich nicht traut zu erkennen zu geben für seine Meinung, muss das mit sich ausmachen, aber ob man denjenigen Ernst nehmen muss?

  • 4
    Bakerstreet 221B
    18. Juni 2012 um 10:15 Uhr

    Ist das hier ein Kindergarten? Wie wäre es, wenn ihr euch mal mit politischen Inhalten beschäftigt und die neue Regierung kritisch angeht, anstatt euch über solche Nebensächlichkeiten auszuweinen.

    • 5
      Anonymous
      18. Juni 2012 um 13:35 Uhr

      Solche Gegebenheiten im politischen System sind genau der Punkt, an dem die Piraten ansetzen können, sollen, müssen und es offensichtlich auch tun. Weiter so!

    • 6
      Kaboom
      18. Juni 2012 um 20:52 Uhr

      Die Art und Weise wie Politik gemacht wird ist aber kein nebensächliches Kasperlethema für die Piraten, sondern ein essentiell Metathema. Die Partei ist von vielen Wählern ja nicht nur für ihre politischen Inhalte gewählt worden, sondern weil sie angepisst davon sind wie der Politikbetrieb heute so abläuft. Es wird schon noch die Zeit kommen, in der man sich hauptsächlich mit wichtigen politischen Fragen, wie z.B. Eierstempel, beschäftigt – aktuell sind’s halt hauptsächlich noch Strukturdebatten und natürlich der Aufbau der eignen Fraktion. Allzuviele politische Inhalte über die Koalitionsvereinbarung hinaus,die man kritisch angehen könnte, hat die neue Regierung ja auch noch nicht aufgeworfen – oder soll man über die Arbeit diskutieren, die die Koalition in der Zukunft gemacht haben werden wird, Beschlüsse kritisieren, die getroffen worden sein werden?

  • 7
    Jacky Neiwel
    18. Juni 2012 um 15:30 Uhr

    „Dabei habe ich inzwischen erfahren, dass bekannte Politiker, die einander auf öffentlicher Bühne anfeinden, sich im vertrauten Kreis duzen und freundlich miteinander plaudern. Diese Unehrlichkeit ist, was der „Würde des Hauses“ und dem Ansehen der Politiker tatsächlich schadet.“

    Das nennt man Professionalität! Ich muss nicht die Meinung des anderen tragen, um mit ihm ein Bier trinken zu gehen. Mir ist momentan auch noch nicht klar, wie ihr denn was anderes tun wollt als Fundamentaloposition, wenn ihr den Kontrahenten im Parlament auch abseits der Bühne mit Argwohn begegnen wollt? Selbst Herr Kohlmeyer kann mit den Berlinern immernoch friedlich twittern.

    • 8
      Kaboom
      18. Juni 2012 um 21:12 Uhr

      Also irgendwer versteht jetzt irgendwas nicht so ganz. Entweder ich begreife deinen Kommentar oder du das Statement von Breyer nicht so vollständig.

      Breyer kritisiert, dass Politiker gelegentlich auf öffentlicher Bühne eine nicht vorhandene persönliche Aversion schauspielern. Ich kann eigentlich nicht erkennen, dass er direkt oder zwischen den Zeilen andeuten wollte, dass sich sachliche Meinungsverschiedenheiten von Politikern auch im persönlichen Umgang untereinander widerspiegeln sollten und dies dann der „Ehrlichkeit“ halber noch nach außen transportiert gehört.

      • 9
        Jacky Neiwel
        18. Juni 2012 um 22:31 Uhr

        Als Fischer den Bundestagspräsidenten beschimpfte, da war das sicherlich auch vor Allem auf dessen Verhalten im Amt und nicht auf ihn privat bezogen. Da wurde nicht schaugespielert.

        Wenn die Politiker sich gegenseitig irgendwelche harten Sätze um die Ohren schmeißen, dann erwarte ich doch eigtl. dass das sich auf des jeweils anderen Politik bezieht und das nichts mit ihrer persönlichen Beziehung zu tun hat.

        Als von Susanne Graf verlangt wurde, sie solle sich von Christopher Lang trennen, DA wurde privates mit politischem vermischt. So etwas darf es in unserer Demokratie eben nicht geben. Ich will keine Abgeordneten die Mitleid mit anderen Abgeordneten habe. Ich kenne auch Ehepaare, die zusammen einen Betrieb haben und sich auf der Arbeit ständig anschreien aber zuhause harmonisch zusammen leben (zugegebermaßen total bescheuert und ich würds auch nicht könn oder wollen aber da hab ich zum Glück nischt mit zu tun.)

        Sicher wünschen die Piraten sich eine Versachlichung der Diskussionen in allen Ebenen-ohne Emotionen oder persönliche Beschimpfungen. Aber bisher sind dahingehend einfach kaum Erfolge zu verzeichnen. Wenn Martin Delius sich ins Parlament stellt und einfach nur die Fakten herunterrasselt und sogar hier und dort Lob ausspricht, dann nimmt weder die Presse, noch die Zuschauer, noch die Opposition in irgendeiner Art Notiz davon.

        Traurig aber wahr ist, dass wir uns emotionslosigkeit schlecht merken können, das geht uns nicht in den Kopf. Leute die ihre Arbeit gut machen brüllen aber seltener rum und kommen daher auch nicht an die Spitze. Ich glaube nicht, dass es in diesem Land was zu erreichen ist, wenn man nur zeigt was kaputt ist. Man muss irgendwem schon unmissverständlich klarmachen, dass er es reparieren muss-aber demjenigem sollte man dann am nächsten Tag immernoch nicht in den Kaffee strullern.

        Anerkennung für Fehler, die entdeckt wurden-ist das nicht auch ein hintergründiger Leitsatz der Piraten?

  • 10
    Pirat
    18. Juni 2012 um 21:18 Uhr

    Wenn das alles ist, was die Grünen den Piraten entgegenzusetzen haben, dann können die Piraten ja entspannt sein.

    Laut „Spiegel“ wurden die Piraten in anderen Landtagen wegen ihrer Kleider kritisiert. Bisher war ich der unmaßgeblichen Meinung, „Parlament“ leite sich von Reden ab, nicht von Germany’s Next Topmodel. Auch hier gilt das oben Gesagte.

  • 11
    Matze78
    19. Juni 2012 um 10:38 Uhr

    Ausgerechnet die Grünen. Interessant was Joschka noch so gesagt hat:
    http://www.youtube.com/watch?v=tBMJqWJQ0HI&feature=player_detailpage#t=88s

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